Finnen stehen im Ruf, skurrile Vorlieben zu haben. Immerhin saunen sie um die Wette und entspannen sich bei Konzerten des „brüllenden Männerchors“ – "Mieskuoro Huutajat". Manch deutscher Baubehörde mag auch skurril erscheinen, dass finnische Städte und Gemeinden inzwischen 95 Prozent aller Baugenehmigungen im Rahmen eines internetbasierten und papierlosen Antrags- und Prüfungsverfahrens vergeben.
Järvenpää, eine Kleinstadt 40 Kilometer nordöstlich von Helsinki, hat nun sogar ein System entwickelt, mit dem Bauherrn den Genehmigungsprozess für ein Eigenheim eigenständig online durchführen und nach erfolgreicher automatisierter Prüfung ihrer Bauvorlage durch das System die Baugenehmigung selbst abrufen können. Sie reichen dazu ein attributiertes digitales Modell des geplanten Gebäudes ein, das alle für die Prüfung erforderlichen geometrischen Angaben sowie Informationen zu Materialien und Konstruktionsweisen enthält. Die Daten müssen sie in einer IFC-Datei zur Verfügung stellen. IFC steht für „Industry Foundation Classes“ und ist ein Datenschema, das von der non-Profit-Organisation buildingSMART gepflegt wird. Der herstellerunabhängige Standard ist bei der International Organisation for Standardization als ISO-Norm 16739 angemeldet.
Die in der einzureichenden IFC-Datei enthaltenen Angaben zu dem Bauvorhaben überprüft der „Modell Checker“ des zur deutschen Nemetschek-Gruppe gehörenden finnischen Softwareanbieters „Solibri“ daraufhin, ob sie mit den Vorschriften des finnischen Baurechts kollidieren oder nicht.
Regelbasierter Algorithmus gleicht IFC-Modell mit Vorschriften des Baurechts ab
Möglich wurde dies, weil die Bauaufsichtsbehörde von Vantaa, der mit gut 237.000 Einwohnern viertgrößten Stadt Finnlands, wichtige Vorarbeiten geleistet hat. Die Bauverwaltung der an Helsinki angrenzenden Stadt prüft bereits seit 2018 alle Bauanträge ausschließlich digital. Jedes Jahr sind das rund 1500 Genehmigungsverfahren. Nach eigenen Angaben sparen sich die Beamten durch den digitalisierten Prüf- und Genehmigungsprozess bei jedem Vorgang 20 Prozent der früher dafür erforderlichen Zeit.
Damit dies möglich wurde, mussten sie allerdings einen Weg finden, wie Software die in einem Bauwerksmodell im IFC-Format enthaltenen Informationen nicht nur lesen, sondern auch fehlerfrei mit den geltenden baurechtlichen Vorschriften abgleichen kann. Die Baubehörde in Vantaa entwickelte mit „Solibri“ einen Algorithmus, der mit dem „Modell Checker“ des Softwarehauses aus Helsinki die rechtliche Zulässigkeit sämtlicher Bauteile mit Hilfe definierter Regeln überprüft. Eine Regel kann dabei mehrere Teilregeln umfassen.
Finnische Bauverwaltung kommuniziert online mit Bauherrn und Bürgern
Järvenpää und Vantaa nutzen zudem wie 60 Prozent aller finnischen Gemeinden die Online-Plattform „Lupapiste“. Sie dient der Kommunikation zwischen Baubehörden, Bauherrn, Architekten und Planern. Auf ihr stehen alle modellbasierten Informationen zu einem Bauvorhaben jederzeit zur Verfügung. Außerdem sind dort Datenbanken der Behörden, ein Archiv aller jemals erteilten Baugenehmigungen sowie Stadt- und Katasterpläne und meist ein drei dimensionales Modell der entsprechenden Stadt oder Gemeinde im Format „CityGML“ des Open Geospatial Consortiums zugänglich.
Da „CityGML“ ein herstellerunabhängiges Datenschema ist, lassen sich in dieses auch Gebäudemodelle im IFC-Format integrieren. Sobald mit einem Bauantrag ein digitales Modell des geplanten Bauwerks eingereicht und diese hochgeladen wurde, können Nachbarn und interessierte Bürger sich daher in den meisten finnischen Kommunen im 3D-Modell ihrer Gemeinde ansehen, wie sich das Neubauprojekt auf die Nachbarschaft auswirkt oder wie es andere Gebäude verschattet. Das erleichtert und beschleunigt die Bürgerbeteiligung bei Bauvorhaben.
Arbeitszufriedenheit in der Bauverwaltung steigt durch digitale Genehmigungsverfahren
Für den Leiter der Bauinspektion von Vantaa, Pekka Virkamäki, und die BIM-Koordinatorin der Stadt, Jekaterina Masjagutova, liegt darin allerdings nicht der größte Nutzen der Kombination aus der automatisierten Prüfung der mit einem Bauantrag eingereichten IFC-basierten Modelle und dem digitalen Modell der jeweiligen Stadt. Wie die beiden Beamten 2020 auf einer Konferenz in Tallinn erklärten, können sie durch die Digitalisierung der Prozesse in der Bauverwaltung von Vantaa um bis zu 30 Prozent effizienter arbeiten. Außerdem sei die Arbeitszufriedenheit ihrer Kollegen gestiegen, weil diese nun häufiger im Home Office arbeiten können. So skurrile Wünsche haben Finnen offensichtlich gar nicht.
13.09.2022